Ding an sich
Physikalisch
Basiswissen
Das Ding an sich ist ein Begriff, der in der modernen Erkenntnistheorie wesentlich von Immanuel Kants dualistischer Philosophie geprägt ist. Vorwiegend gilt das Wort als Oberbegriff für sogenannte intelligible Gegenstände oder für die denkmögliche Entität einer intelligiblen Ursache, die beide dadurch bestimmt sind, keine Entsprechung in der reinen, folglich auch nicht in der sinnlichen Anschauung (Erfahrung) haben kann aber nicht muss.
Das Ding an sich im Originalzitat von Kant
„Wenn wir aber auch von Dingen an sich selbst etwas durch den reinen Verstand synthetisch sagen könnten (welches gleichwohl unmöglich ist), so würde dieses doch gar nicht auf Erscheinungen, welche nicht Dinge an sich selbst vorstellen, gezogen werden können. Ich werde also in diesem letzteren Falle in der transscendentalen Überlegung meine Begriffe jederzeit nur unter den Bedingungen der Sinnlichkeit vergleichen müssen, und so werden Raum und Zeit nicht Bestimmungen der Dinge an sich, sondern der Erscheinungen sein: was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.“[1]
Das Ding an sich als Begriff des Dualismus
Kants Überlegungen zum Ding an sich sind ein gutes Beispiel für eine dualistische Sichtweise. Ähnlich wie vor ihm schon Descartes trennt Kant die Welt in Gegenstände des Bewusstseins (res cogitans) und Gegenstände der Außenwelt (res extensa). Die Welt besteht damit aus zwei Prinzipien, genau das nennt man in der Philosophie => Dualismus
Das Ding an sich ist nicht intelligibel
In der Philosophie bezeichnet Intelligibilität eine grundsätzlich Verstehbarkeit. Etwas ist intelligibel, wenn man es zumindest theoretisch verstehen oder erkennen kann. Das trifft auf die Dinge an sich im Sinne Kants nicht zu: „was die Dinge an sich sein mögen, das weiß ich nicht“ [1].
Vorgeschichte in der Scholastik
Was können wir mit unseren Sinnen und unserem Denkvermögen über die wirklichen Dinge der Welt erfahren? Mit dieser Frage setzten sich bereits Denker der mittelalterlichen Denkströmung der Scholastik intensiv auseinander. Ein Beispiel dafür ist Bartholomäus Arnoldi von Usingen. Man könne kein Wissen über die Dinge selbst erlangen, sondern stets nur Satzwissen [3, Seite 529]. Ein gedanklicher Hintergrund des mittelalterlichen Interesses an solchen Fragen war das => Universalienproblem
Die Radarschirm-Metapher
Auf einem Radarschirm werden Flugzeuge oft nur als Punkt oder Fleck abgebildet, ebenso wie zum Beispiel auch Vogelschwärme. Das Bild auf dem Radarschirm entspricht hier dem Bewusstseinsinhalt. Doch es erscheint unmöglich, von der Informationen auf dem Radarschwirm auf den Geruch, die Lautstärke oder die Farbe des Flugobjektes zu schließen. Das Flugobjekt an sich bleibt mit diesen Eigenschaften unerkennbar. Siehe auch => Radarschirm-Metapher
Das Ding an sich in der modernen Physik
Ein Elektron wird oft dargestellt als kleiner blauer Punkt oder eine kleine Kugel. Als solches ist es eine Entität unserer inneren Vorstellung, ein res cogitans. Messgeräte und Versuche - etwa das Doppelspaltexperiment - sprechen überzeugend für die Existenz und Teilchenhaftigkeit von Elektronen. Man kann ihre Spur etwa in Nebelkammern sichtbar machen oder ihr Auftreffen auf einem Leuchtschirm. Gleichzeitig ist unklar, ob Elektronen eine räumliche Ausdehnung besitzen (res extensa?) und wie sie ihr Teilchencharakter mit Welleneigenschaften vertragen soll[2]. Kants Genügsamkeit, nicht wissen zu müssen, was ein Ding an sich sei ähnelt sehr dem rein formalen Herangehen vieler Wissenschaftler: sie begnügen sich damit, Dinge berechnen zu können, gehen aber der Frage nach der Natur, dem Wesen der Dingen nicht weiter nach (Kopenhagener Deutung der Quantenphysik). Ein Elektron bleibt damit ein Ding an sich im Sinne Kants, in der Sprache der Quantenphysik auch ein => Quantenobjekt
Das Ding an sich in der Simulationshypothese
Als Simulationshypothese bezeichnet man die Spekulation, das das gesamte Universum in enger Analogie zu einer Computersimulation gedeutet werden kann [5][6][7]. In dieser modellhaften Analogie würde eine Betrachter zwar Dinge sehen, etwa einen Baum in einem Computerspiel. Doch existiert dieser Baum nirgends für sich als reales Ding. Er wird von der Simulation immer wieder neu als Sinneseindruck erzeugt. Diese Sinneseindrücke korrelieren aber letzten Endes nur mit elektrischen Erregungsmustern (Brain in the Vat) oder sie werden vom "Weltcomputer", vom "Weltgeist" oder einem "Gott" direkt ohne materielle Vermittlung bewirkt. Das Ding an sich wäre damit nicht nur nicht erkennbar, sondern es würde auch nicht wirklich existieren. Siehe auch => Simulationshypothese
Quellen
◦ [1] Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, AA IV, Kritik der reinen Vernunft, Seite 178
◦ [2] Natalie Wolchover: Was ist ein Teilchen. In: Spektrum der Wissenschaft 4.21 (April 2021), Seite 13 ff.
◦ [3] Hans Ulrich Wöhler: Die Erfurter via moderna im Spiegel der Naturphilosophie? In: Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln. Herausgegeben von Jan A. Aertsen und Martin Pickavé. Band 31. „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts. Verlag Walter de Gruyter. 2004. Seite 520 ff. ISBN 3-11-018261-0.
◦ [4] Eduard von Hartmann: Das Ding an sich und seine Beschaffenheit. Berlin 1871, 2. Auflage 1875 unter dem Titel: Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus. 3. Auflage 1885.
◦ [5] Beane, Silas; Zohreh Davoudi; Martin J. Savage (9 November 2012). Constraints on the Universe as a Numerical Simulation. doi:10.1140/epja/i2014-14148-0. Siehe auch => Simulationshypothese
◦ [6] Nick Bostrom: Are We Living in a Computer Simulation? In: The Philosophical Quarterly. 53, 2003, S. 243–255, doi:10.1111/1467-9213.00309.
◦ [7] Konrad Zuse, 1969. Rechnender Raum. Braunschweig: Friedrich Vieweg & Sohn. 70 Seiten.