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Deutschland und der nächste Krieg


Buch


Basiswissen


Am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) erschien in Deutschland das Buch „Deutschland und der nächste Krieg“. Im ersten Kapitel leitet der Militärhistoriker Friedrich von Bernhardi (1849 bis 1930) aus seiner Sicht auf die Biologie eine Pflicht der Völker zum Krieg ab. Ohne Krieg, so Bernhardi, gibt es keinen Fortschritt. In den weiteren Kapitel folgte eine detaillierte Beschreibung der militärischen Ausgangslage und Möglichkeiten Deutschlands. Hier ist ein längeres Zitat aus dem ersten Kapitel als Beispiel für das sozialdarwinistische Denken vorgestellt.

Originalzitat zum Sozialdarwinismus


„Innerhalb gewisser Grenzen wird niemand den Bestrebungen, die Kriegsgefahr zu verringern und die Leiden, die der Krieg mit sich bringt, abzuschwächen, einige Berechtigung absprechen. Daß der Krieg das Erwerbsleben zeitweilig stört, die ruhige wirtschaftliche Entwicklung unterbricht, vielfaches Elend mit sich führt und die ursprüngiche Roheit des Menschen hervorbrechen läßt, ist eine nicht wegzuleugnende Tatsache. Es ist daher nur zu billigen, wenn Kriege aus leichtfertigen Gründen unmöglich gemacht werden sollen, wenn man bemüht ist, die Unbilden, die der Krieg notwendig mit sich führt, einzuschränken, soweit es mit dessen eigenstem Wesen vereinbar ist. Was die Haager Friedenskonkgresse auf diesem engeren Gebiete geleistet haben, verdient Anerkennung. Ganz etwas Anderes aber ist es, wenn die Absicht dahing geht, den Krieg überhaupt zu beseitigen und seine entwicklungsgeschichtliche Notwendigkeit zu leugnen.“

„Dieses Streben setzt sich in unmittelbaren Widerspruch mit den großen allgemeinen Gesetzen, die alles Leben beherrschen, denn der Krieg ist in erster Linie eine biologische Notwendigkeit, ein Regulator im Leben der Menschheit, der gar nicht zu entbehren ist, weil sich ohne ihn eine ungesunde jeder Förderung der Gattung und daher auch jede wirkliche Kultur ausschließende Entwicklung ergeben „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“. Diese Erkenntnis hatte sich schon lange vor Darwin den Weisen des Altertums erschlossen.“ [Bernhardi zitiert hier den antiken griechischen Naturphilosophen Heraklit.]

„Im Leben der Natur ist der Kampf ums Dasein zugleich die Grundlage aller gesunden Entwicklung. Alles Seiende stellt sich dar als Ergebnis ringender Kräfte. So ist auch im Leben des Menschen der Kampf nicht nur das zerstörende sondern auch das lebenspendende Prinzip. „Verdrängen oder sich verdrängen lassen, ist der Kern des Lebens“, sagt Goethe, und der Lebensstarke behält die Oberhand. Überall gilt das Gesetz des Stärkeren. Die Formen überdauern, die sich die günstigsten Lebensbedingungen zu schaffen und sich im Gesamthaushalt der Natur zu behaupten vermögen. Das Schwache unterliegt. Geregelt und gemäßigt wird dieser Kampf durch die unbewußt waltenden biologischen Gesetze und das Spiel der gegeneinander wirkenden Kräfte. in der Welt der Pflanzen und Tiere vollzieht sich dieser Prozeß in unbewußter Tragik. In der Menschheit wird er mit Bewußtsein geführt und durch die Gesellschaftsordnung geregelt. Mit allen Mitteln sucht der Willens- und Geistesstarke sich zur Geltung zu bringen, strebt der Ehrgeizige nach oben, und keineswegs läßt sich bei diesem Streben das Individuum lediglich vom Bewußtsein des Rechtes leiten. Gewiß ist die Lebensarbeit und ist der Lebenskampf zahlreicher Menschen durch selbstlose und ideale Beweggründe bestimmt; in weit höherem Maße aber sind es die weniger edlen Leidenschaften: Gier nach Besitz, Genuß und Ehre, Neid und Rachegefühl, die das menschliche Tun bestimmen, und vielleicht öfter noch ist es die Not des Lebens, die selbst höher veranlagte Naturen in den gemeinen Kampf der Massen um Dasein und Genuß herunterzieht. Darüber wird wohl niemand im Zweifel sein. Aus Individuen aber setzen sich die Völker, aus Gesellschaften die Staaten zusammen, und was in dem einzelnen wirksam ist, kommt auch in der Gesamtheit zur Geltung. Es ist ein fortwährender Kampf um Besitz, Macht und Herrschaft, der die Beziehungen der Völker untereinander in erster Linie beherrscht, und das Recht wird meitens nur so lange geachtet, als es sich dem Vorteil vereinigen lässt. Solange es Menschen gibt, die menschlich fühlen und ringen, solange es Völker gibt, die nach erweiterter Lebensbetätigung streben, solange werden sich auch stets Interessensgegensätze herausbilden, werden Anlässe zum Kriegführen gegeben sein.“

„Der Kampf ist dasjenige Naturgesetz, auf das sich alle Naturgesetze vereinfachen lassen. Alle innergesellschaftlichen Güter, alle Gedanken, Erfindungen, Einrichtungen, wie die Gesellschaftsordnung selbst, sind ein Ergebnis des innergesellschafltichen Kampfes, in dem das eine bestehen bleibt, das andere ausgeschieden wird. Der außergesellschaftliche, der übergesellschaftliche Kampf, der die äußere Entwicklung der Gesellschaften der Völker, Rassen leitet, ist der Krieg.“

Die innere Entwicklung, der innergesellschaftliche Kampf ist die menschliche Tagesarbeit, der Kampf der Gedanken, Gefühle, Wünsche, Wissenschaften, Leistungen. Die äußere Entwicklung, der übergesellschaftliche Kampf, ist der blutige Völkerkampf, der Krieg. Worin besteht die Schöpferkraft des Kampfes? In Werden und Vergehen; im Siege des einen Faktors und in der Niederlage des anderen Faktors. In der Auslese liegt die Schöpferkraft des Kampfes.“

Im innergesellschaftlichen Kampf wird die Gesellschaftsordnung sich als die lebensfähigste erweisen, in der die tüchtigsten sich als die lebensfähigsten erweisen, in der die tüchtigsten Persönlichkeiten zum größten Einfluß gelangen. Im außergesellschaftlichen Kampf, im Krieg, wird das Volk siegen, das die größte körperliche, geistige moralische, materielle und staatliche Kraft in die Wagschale zu werfen hat und daher am wehrhaftesten ist. Ihm wird der Krieg günstige Lebensbedingungen, erweiterte Entwicklungsmöglichkeit, gesteigerten Einfluss gewähren und damit dem menschlichen Fortschritt dienlich sein; denn es ist klar, daß die Faktoren, die die Überlegenheit im Kriege gewähren, nämlich vor allem die geistigen und sittlichen, zugleich die sind, die überhaupt eine fortschrittliche Entwicklung ermöglichen. Eben dadurch, daß sie die Elemente des Fortschritts in sich bergen, verleihen sie den Sieg. Ohne den Krieg aber würden nur allzuleicht minderwertige oder verkommene Rassen die gesunden keimkräftigen Elemente überwuchern, und ein allgemeiner Niedergang müßte die Folge sein „Der Krieg“, sagt U. W. v. Schlegel, „ist notwendig wie der Kampf der Elemente in der Natur.“

[...]

Gewiss wird es vorkommen, daß mehrere schwächere Völker sich vereinigen und eine Überlegenheit bilden, um das an sich stärkere Volk zu überwinden, und oft wird ihnen das zeitweise gelingen. Auf die Dauer aber macht sich die intensivere Lebenskraft dennoch geltend, und während die vereinigten Gegner sich verderben, erwachen dem starken Volke selbst aus der momentanen Niederlage neue Kräfte, die ihm den endlichen Sieg auch über numerische Überlegenheit verschaffen. Gerade unsere deutsche Geschichte ist ein redendes Beispiel für diese Wahrheit.

So ist der Kampf ein allgemeines Gesetz der Natur und der Trieb zur Selbterhaltung, der zum Kampf führt, als eine natürliche Bedingung alles Lebens durchaus berechtigt. „Mensch sein heißt ein Kämpfer sein.“ Sich selbst aufgeben aber ist eine Verneinung des Lebens, wie im Dasein des einzelnen, so auch im Leben der Staaten als der Volkspersönlichkeiten; das eigene selbständige Dasein zu behaupten, ist das erste und oberste Gesetz. Nur in der Selbstbehauptung kann der Staat seinen Bürgern die Lebensbedingungen erhalten und den rechtlichen Schutz gewähren, den jeder von ihm zu fordern berechtigt ist. Diese Pflicht der Selbstbehauptung ist keineswegs durch die Abwehr feindlicher Angriffe erschöpft; sie schließt die Forderung ein, der Gesamtheit des Volkes, das der Staat umfaßt, Daseins und Entwicklungmöglichkeiten zu gewähren.

Kräftige, gesunde und aufblühende Völker nehmen an Volkszahl zu; sie bedürfen daher von einem gegebenen Augenblick an einer steten Erweiterung ihrer Grenzen, sie brauchen Neuland, um den Überschuß der Bevölkerung unterzubringen. Da aber die Erde fast überall besiedelt ist, kann Neuland im allgemeinen nur auf Kosten Besitzender gewonnen werden, d. h. durch Eroberung, die damit zu einem Gesetz der Notwendigkeit wird.

Das Recht der Eroberung ist auch allgemein anerkannt. Zunächst vollzieht sie sich auf friedlichem Wege; übervölkerte Länder ergießen einen Strom von Auswanderern in andere Staaten und Gebiete. Indem diese sich den Rechtsordnungen des Einwandererlandes unterordnen, suchen sie sich auf Kosten der ursprünglichen Einwohner und im Wettbewerb mit ihnen günstige Daseinsbedingungen zu schaffen, d. h. zu erobern.

Allgemein anerkannt ist auch das Recht der Kolonisation, indem weite von wenig kultivierten Massen bewohnte Gebiete durch Staaten höherer Kultur in Besitz genommen und ihrer Herrschaft unterworfen werden. Die höhere Kultur und die dementsprechend größere Macht begründen das Recht zur Besitzergreifung. Freilich ist dieses Recht ein sehr schwankendes, und es dürfte unmöglich sein, zu bestimmen, welcher Kulturunterschied die Besitzergreifung und Unterwerfung rechtfertigt. Gerade die Unmöglichkeit, in diesen Beziehungen der Völker zueinander eine rechtliche Grenze zu finden, ist aber wieder die Ursache vieler Kriege. Der Unterworfene erkennt das Recht nicht an, ihn zu unterwerfen, und das stärkere Kulturvolk seinerseits will dem Unterworfenen das Recht auf Selbständigkeit nicht zugestehen. Kritisch wird dieser Zustand besonders dann, wenn die Kulturverhältnisse sich mit der Zeit geändert haben - wenn auch das unteworfene Volk höhere Lebensformen und Lebensauffassungen gewonnen hat und der Kulturunterschied damit immer mehr verschwindet: Verhältnisse, wie sie jetzt zum Beispiel in Britisch-Indien heranreifen.

Endlich gilt auch von jeher das Recht der Eroberung durch den Krieg. Wo für ein zunehmendes Volk Kolonialland von unkultivierten Rassen nicht gewonnen werden kann und dennoch der Volksüberschuss, den das eigene Land nicht mehr zu ernähren vermag, dem Staate erhalten werden soll, bleibt nichts Anderes übrig, als sich das nötige Gebiet durch Krieg zu verschaffen, da zwingt der Selbsterhaltungstrieb zum Kriege und zur Eroberung fremden Landes. Da hat nicht mehr Recht, wer besitzt, sondern wer im Kampfe Sieger ist, und für das bedrohte Volk gilt das Goethesche Wort:

„Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen.“

„Das Vorgehen Italiens in Tripolis liefert ein Beispiel für derartige Verhältnisse, während Deutschland in der Marokkofrage sich zu ähnlichem Entschluss nicht aufzuraffen vermochte.“

„Recht hat in solchen Fällen, wer die Kraft hat, zu erhalten oder zu erobern. Die Kraft ist zugleich das höchste Recht, und der Rechtsstreit wird entschieden durch den Kraftmesser, den Krieg, der zugleich immer biologisch gerecht entscheidet, da seine Entscheidungen aus dem Wesen der Dinge selbst hervorgehen.“

Der Kern des Argumentes


Soweit ein Auszug aus dem ersten Kapitel von Bernhardis Buch „Deutschland und der nächste Krieg“ aus dem Jahr 1913. Wer um die weitere Geschichte bis hin zum Rassenwahn der Nationalsozialisten weiß, erkennt in Bernhardis Gedankenwelt unschwer die Tendenz zum aggressiven Faschismus deutscher und italienischer Prägung. Der Engländer George Orwell beobachtete die aufsteigenden faschistischen Staaten Europas aufmerksam. Er reduzierte ihren Wesenskern auf eine einfache Formel, um die eigentlich sich auch ganz die Argumentation Bernhards dreht: Might is right. In Bernhardis Worten: Kraft ist zugleich das höchste Recht.

Geistesgeschichtliche Einordnung


Eine Weltanschauung wie die von Bernhardi kann man sicherlich auf eine Vielzahl von kulturellen, sehr wahrscheinlich auch familiären oder in der Person selbst angelegten Einflüsse zurückführen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht interessant ist hier vor allem die sogenannte organische Theorie. So bezeichnete man damals die Vorstellung von Staaten als wirklich existierenden Lebewesen, bis hin zu der Vorstellung, sie hätten ein eigenes Bewusstsein. Indem man die Lebenswirklichkeit des Menschen ganz biologistisch deutete, war der Schritt leicht getan, auch den Darwinismus darauf anzuwenden fast folgerichtig. Als eine Art Vorgeschichte zu Bernhardis Buch interessant ist also die organische Theorie ↗

Bernhardis Fehlschluss


Bernhardis Gedankenfluss hat äußerlich etwas von einer logischen Argumentation. Doch ist die Argumentationskette immer wieder unterbrochen von dem, was man heute einen naturalistischen Fehlschluss nennt. Bernhardi beschreibt wie er die Natur als Kampf ums Dasein sieht. Daraus folgert er immer wieder neu, dass es so auch sein müsse. Ganz unabhängig davon, ob der Kampf das oberste Naturgesetz ist oder auch nicht: es ist logisch unmöglich, von einem Ist-Zustand auf einen Soll-Zustand zu schließen. Wenn zum Beispiel Seuchen immer wieder Menschen dahinraffen, dann heißt das keineswegs, dass die auch so sein soll und gut ist. Mehr dazu steht im Artikel naturalistischer Fehlschluss ↗

Friedrich von Bernhardi als Person


Friedrich von Bernhardi wurde 1849 in Sankt Petersburg in eine adlige Familie geboren. Er schlug eine Militärlaufbahn ein, nahm aber 1909 seinen Abschied um Schriftsteller zu werden. 1911 unternahm er eine Weltreise, die ihn unter anderem nach Ägypten, Ostasien und in die USA führte. Im ersten Weltkrieg war er erneut 4 Jahre im Militär aktiv. Aber auch die Grauen des mechanisierten Krieges mit 20 Millionen Toten änderten nichts an Bernhardis Gutheißung des Krieges. In einem weiteren Buch[3] nahm er 1920 wesentliche Züge der späteren nationalisozialisischen Kriegsführung vorweg, vor allem die Idee des schnellen Bewegungskrieges und den Vorrang (das Primat) des Militärischen vor dem Politischen. Sozialdarwinistisches Denkens im Stile Bernhardis sollte seinen unmissverständlichsten Ausdruck in dem als Vernichtungs- und Eroberungskrieg von 1939 bis 1945. Siehe auch Zweiter Weltkrieg ↗

Fußnoten