R


Der Eindimensionale Mensch


Futurologie


Basiswissen


Der Soziologie Herbert Marcuse (1898 bis 1979) beschreibt ein Paradoxon: die moderne Industriegesellschaft wird immer leistungsfähiger und schafft eigentlich die technische Voraussetzung für utopische Gesellschaftsformen. Tatsächlich leben in ihr aber fort: Funktionalisierung der Individuen und Kampf als Tagesgeschäft. Das Eindimensionale ist das Denken in Operationen, Handlungsabfolgen und Anweisungen. Es fehlt die zweite Dimension von philosophischer Wahrheit, inneren Welten, Privatheit.

Inhalt des „eindimensionalen Menschen“


Herbert Marcuses Buch erschien erstmals 1964 in den USA. Marcuse konstatiert darin die Zementierung einer zunehmend technokratischen und sich selbst als alternativlos empfindenen Denkweise. Das techno- und bürokratische Machertum bietet für alle Bedürfnisse rationale Handlungfolgen an, zumeist in Form von Konsumakten. Wer sich etwa niedergeschlagen und antriebslos fühlt, setzt sich nicht tiefer mit möglichen seelischen oder gesellschaftlichen Ursachen auseinander. Diese Auseinandersetzung wird durch die Handlung "zum Psychiater gehen" oder "Antidepressiva kaufen" ersetzt. Marcuse beschreibt, wie die Bedeutung von Begriffen zunehmend als Handlungsabfolgen operationalisiert wird. So könnte man auf die Definition des schwierigen Wortes "Schuld" verzichten und sagen: Schuld liegt vor, wenn ein Gericht sie festgestellt hat. Dadurch ist eine sinntragende Definition des Begriffes ersetzt worden durch die Handlung "Gerichtsverfahren". Marcuse übte mit diesem Buch einen starken Einfluss auf die deutsche Studentenbewegung der 1960er und 1970er Jahre aus. Siehe auch Konsumismus ↗

Was ist eindimensional im Sinne Marcuses?


Eindimensional bezeichnet Marcuse das Denken insofern, als seine einzige Dimension die offensichtlicher Fakten und Handlungen ist. Die zweite, verlorene Dimension ist die Welt des begrifflich schwer fassbaren, der berechtigten Widersprüche und des schwer fassbaren. Eine philosophische und erkenntnistheoretische Position, die Marcuse selbst immer wieder als verkürzt und eindimensional charakterisiert ist der Positivismus ↗

Was heißt eindimensionsal in der Mathematik?


In der Mathematik, Physik und ähnlichen Fachgebieten heißt eine Größe eindimensional, wenn sie durch einen Zahlenwert alleine eindeutig beschrieben werden kann. Die Position auf einem Zahlenstrahl oder Flusskilometer sind klassische Beispiele. Siehe mehr dazu im Artikel eindimensional ↗

Marcusische Eindimensionalität in der Mathematik


Nicht in Marcuses originalem Buch enthalten aber doch treffend ist eine Beobachtung aus dem Mathematik-Unterricht. Man stelle die Frage, was die Steigung einer Geraden sei. Die eindimensionale Antwort lautet: "Die Steigung einer Geraden ist Y2 minus Y1 durch X2 minus X1". Hier wurde die begriffliche Definition ersetzt durch eine operationalisierte Handlung, nämlich eine Rechenabfolge. Siehe auch Steigung einer Geraden ↗

Was könnte eine zweite Dimension ausmachen?


Hier bleibt Marcuse wortkarg. Die verlorende Dimension beinhaltet Unklares, Widersprüchliches. Marcuse bringt dazu in seinem Buch aber kaum Beispiele. Hier stehen einige Vorschläge, was eine zweite Dimension im Sinne Marcuses enthalten könnte:


Eindimensionalität aus evolutionär-soziobiologischer Sicht


Marcuses Buch ist weitgehend beschreibend. Es wird etwa kein Bezug hergestellt zu anderen soziologischen Theorien, der Soziobiologie oder dem Darwinismus. Gleichwohl könnte ein Blick von einer biologistisch gedachten Evolution Erklärungsansätze für Marcuses paradoxe Befunde liefern: die Menschen befinden sich gerade in einem Prozess der Verschmelzung zu einem Überwesen oder einer Überorganisation auf einer nächsthöheren Komplexititästheorie, ähnlich dem Verschmelzen von Zellen zu einem mehrzelligen Organismus [Global Brain, Gaia etc.]. Der damit einergehende Verlust persönlicher Autonomie und zweckfreier, bedingungsloser Fürsorge wird typischerweise von Autoren[4][5] beschrieben, die Tierformen im Übergangsstadium von einer lockeren Gesellschaft hin zu einem stark intergrierten neuen Über-Wesen beschreiben. Ein Zeitgenosse Marcuses, der polnische Autor Stanislaw Lem prägte dafür den Begriff soziointegrative Degeneration ↗

Das Internet als Katalysator?


Auf der Erde entsteht ein lebendes Überwesen aus Maschinen und Menschen, die Machina sapiens. Der Mensch innerhalb dieser Globalmaschine ist nur ein funktionales Bauteil, dessen Wohl nicht im Vordergrund steht. Das Internet beschleunigt diese Entwicklung hin zu einem letztendlich verdummten Mensch. Diese düstere Sicht legte der Autor Kazem Sadegh-Zadeh eindringlich in seinem Buch über die Entstehung der Machina sapiens[6] dar. Dabei bezieht sich Zadeh ausdrücklich auch auf den Eindimensionalen Menschen von Herbert Marcuse. Ein verbindender Gedanke beider Autoren ist, dass sich der technische Apparat über repressive Wünsche (Marcuse) unseres Lusthaushaltes (Sadegh-Zadeh, Seite 104) bemächtigt. Siehe auch Machina sapiens ↗

Fußnoten