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Bernstein-Hypothese


Sprache ist sozial geprägt


Basiswissen


Es gibt eine Unterschichten- und eine Mittel- bzw. Oberschichtensprache: die These wurde 1958 veröffentlicht: Angehörige der sozialen Unterschicht (Arbeiter) verwenden einen restringierten Sprechcode, Angehörige der Mittel- und Oberschicht eher einer elaborierten Code. Wer diesen Satz versteht, gehört der Hypothese zufolge damit eher der Mittel- oder Oberschicht an. Das ist hier ausführlich erklärt.

Restringiert


Restringiert heißt so viel wie eingeschränkt, beschränkt. Mit diesem Wort wird die Sprechweise von Angehörigen der Arbeiterklasse charakterisiert. Hier stehen einige Merkmale dieses sogenannten restringierten Codes:


Gebildet: elaboriert


Elaboriert heißt so viel wie ausgearbeitet, entwickelt. Mit diesem Wort wird die Sprechweise von Angehörigen höherer sozialer Schichten charakterisiert. Im Deutschen nennt man diese Sprache auch Bildungssprache. Typische Merkmale sind:


Beispiel negative Zahlen


Restringiert: „Also heute mussten wir rechnen. Da war so Aufgaben mit Minus. Das war voll komisch. Weil aus Minus plus werden kann. Ich hab' da nix verstanden. Das is viel zu schwer, das hat keiner echt verstanden.“ Elaboriert: „Das neue Thema heißt negative Zahlen. Es wurden neue Rechengesetze vorgestellt, die aber für viele nur schwer verständlich waren.“ Siehe auch negative Zahl ↗

Beispiel Geradensteigung


Restringiert: „Wenn man die Steigung von einer Geraden ausrechnen soll, dann nimmt man erst Y2 minus Y1. Dann rechnet man X2 minus X1. Dann teilt man das Ergebnis von Y durch das Ergebnis von X.“ Elaboriert: „Die Steigung ist das Verhältnis des y-Unterschiedes zum x-Unterschied.“ Siehe auch Geradensteigung ↗

1949: extrem restringiert: Orwell „Neusprech“


Im Jahr 1949 veröffentliche der englische Schriftsteller George Orwell seinen dystopischen Zukunftsroman „1984“[4]. Die Herrscher haben dort eine extrem reduzierte Sprache entwickelt, die sie Neusprech nennen. So wird die Idee von „sehr schlecht“ in Neusprech ausgedrückt als „Doppel-plus-ungut“. Typische Worte aus Orwell Original-Roman waren: goodthink, Minipax, prolefeed, sexcrime, joycamp, Ingsoc, bellyfeel, thinkpol. Das Ziel der Obrigkeit in Orwells fiktiver Diktatur ist es, abweichendes Denken von vorneherein dadurch unmöglich zu machen, dass es gar keine Worte mehr gibt, mit denen man regierungskritische Gedanken denken könnte. Orwell ging also davon aus, dass grammatische Strukturen und viele Worte durchaus auch neue Denkstrukturen mit sich bringen, die ohne diese Sprachgebilde nicht denkbar wären.

1964: das eindimensionale Denken nach Marcuse


Im Jahr 1964 wurde in den USA der Klassiker "Der eindimensionale Mensch" der deutschen Soziolwissenschaftlers Herbert Marcuse veröffentlicht. Er beschrieb darin eine Denk- und Sprechweise, mit der erfolgreich politisches und kritisches Denken „abgeriegelt“ werden können. Ein Kennzeichen des entsprechend eindimensionalen Menschen sei es, stets nur in klaren eng umrissenen Worten zu denken (Positivismus) sowie bedeutungsreiche Substantive durch eng gefasse operational definierte Worte zu ersetzen. Mehr dazu unter der eindimensionale Mensch ↗

Um 2010: Ewa Dabrowska bestätigt im Kern Bernstein


Die aus Danzig stammende Linguistin Ewa Dąbrowska forscht seit 2020 an der Universität Nürnberg-Erlangen zu dem Thema. Sie bemerkte vor allem an Studien in England, einen sehr unterschiedlichen Sprachgebrauch je nach sozialer Herkunft. So sollten Sätze bestimmten Bildern zugeordnet werden. Dabei traten überraschend viele Probleme auf mit Sätzen wie: „Jeder Apfel liegt in einer Schüssel“, „Es war der Mann, der das Kind fütterte“ oder „Der Löffel in der Tasse ist rot“ oder „Das Kind wird von dem Mann gefüttert“. Siehe auch Ewa Dabrowska ↗

Bedeutung für die Mathematik


Erklärtexte in der Mathematik sind oft für Fachpersonen geschrieben nicht aber für Lernende. Hier ein Beispiel: "Größen, zu denen die Funktionswerte konvergieren oder (bei R als Zielbereich) bestimmt divergieren, wenn die Argumentwerte konvergieren oder (bei einer Teilmenge von ℝ als Definitionsbereich) bestimmt divergieren.[2]" So definiert das Spektrum Lexikon der Mathmatik den Begriff Grenzwert. Ähnliche Definitionen finden sich auch in Schulbüchern zu Mathematik. Diese sehr stark restringierte und formalisierte Sprache kann von nur sehr wenigen Schülern wirklich verstanden werden. Kritiker bemängeln, dass Sprache hier weniger ein Mittel der Verständigung sondern eher eine Hürde für das Verstädnis ist. Diese Sicht können wir aus der Arbeit in der Lernwerkstatt Mathematik (seit 2010) bestätigen. Lies mehr unter Rechnen und Sprache ↗

Wie kann man solche Hypothesen prüfen?


In der Mathematik, speziell der induktiven (beurteilenden) Statistik gibt es Methoden, um zu erkennen, wie oft ein Effekt durch bloße Zufallsschwankungen vorgetäuscht werden kann. Wenn ein Proband drei einfache Fragen zum Allgemeinwissen nicht beantworten kann, dann könnten das per Zufall die einzigen drei Fragen sein, deren Antwort er nicht kennt. Es könnte aber auch ein Hinweis auf ein geringes Allgemeinwissen sein. Statistisch schätzt man die beiden Möglichkeiten ab über einen sogenannten Hypothesentest ↗

Kritik


Kritisiert wurden die Autoren der Bernstein-Hypothese für die Verwendung wertender Begriffe wie Unter- und Oberschicht aber auch von restringiert und elabobiert. Es wurde bemerkt, dass auch mit wenigen Worten und beschränkten formalen Konstruktionen inhaltsreich und nuanciert gesprochen werden kann. Gleichzeitig kann man mit scheinbar elaborierter Sprache Texte erzeugen, die tiefsinnig erscheinen, aber keinen wirklich greifbaren Inhalt haben. Ein ausdauernder Befürworter einfacher und Kritiker pseudo-gebildeter Sprache[3] war der englische Schriftsteller George Orwell ↗

Fußnoten